Rotdorn im April – Der 13. April 1945 in einem Dorf in Thüringen
Schon in meiner Schulzeit haben mich die Erinnerungen eines Zeitzeugen an den 13. April 1945 zu einer kleinen Kurzgeschichte inspiriert. Heute habe ich sie wieder hervorgeholt und möchte sie in diesem Beitrag teilen. Anlass dafür war, dass mir eine weitere Zeitzeugin heute erzählte, wie warm es damals im April war – so warm, dass der Rotdorn blühte.
Der Handwagen schwankte bedrohlich hin und her, als ich ihn über die Bahngleise zog. Mein Freund Alfred schrie auf, als die ganz oben liegenden, kaputten Körbe ins Rutschen gerieten und versuchte, sie mit beiden Händen aufzufangen. Trotzdem gingen zwei von ihnen krachend zu Boden. Ich blieb stehen. Der Bahnhof lag still da. Nirgendwo hörten wir Stimmen oder Motorenlärm.
Für einen Moment schloss ich die Augen und ließ mir die warme Frühlingssonne auf die Stirn scheinen. Obwohl es erst April war, schien die Sonne so warm, dass Alfred und ich barfuß liefen. Meine Mutter hatte mich gedrängt, die kurzen Wollhosen anzuziehen, die bei jedem Schritt fürchterlich kratzten. Wir sollten den alten Kram dem Korbmacher im Nachbardorf zum Reparieren geben. Alfred sammelte die Körbe wieder ein und klemmte sie unter den dünnen Strick, der sie notdürftig auf dem Handwagen hielt.
Ich nahm die Deichsel wieder in die Hand. „Wenn wir auf der Höhe sind, bist du dran mit ziehen“, sagte ich und ging weiter. Alfreds Schweigen deutete ich als Ja. Es ging weiter den Berg hinauf. Den Weg säumten uralte Rotdornbäume, deren Blüten schon jetzt rosarot leuchteten, als wollten sie den Frühling einfach überspringen.
Wir ließen das alte Ortsschild hinter uns, dessen Buchstaben vom Straßenstaub grau aussahen. Das Rattern der kleinen Wagenräder auf der mit Schlaglöchern übersäten Teerstraße wurde begleitet vom Klang unserer Schritte und dem Endlos-Gesang einer Lerche. Über das Feld hinweg konnte man bis weit in die Landschaft sehen, wo die Landstraße verlief.
Als wir den höchsten Punkt des Hügels erreichten, ließ ich die Deichsel zu Boden fallen – ein Klappern durchbrach die Stille, als sie mehrmals auf dem Asphalt auf und ab sprang.
„Komm schon, du kannst ruhig noch ein Stück weiterziehen“, beschwerte sich Alfred und hob einen Stein auf, um ihn in meine Richtung zu werfen. Ich trat entspannt einen Schritt beiseite und wir sahen zu, wie das Steinchen über den Teer in den Straßengraben rollte.
Als ich Alfred anschaute, bemerkte ich, dass seine grauen Augen einen Punkt in der Ferne fixierten. Automatisch folgte ich seinem Blick und suchte die Landschaft ab. Kleine dunkle Flecke krochen die Landstraße entlang, die von der Autobahn kam. Das lichte Wäldchen dort oben spuckte einen nach dem anderen aus, wie emsige Ameisen rückten sie näher. Räder rollten, eiserne Körper federten über den Teer.
„Die Amerikaner!“, sagte Alfred mit heißerer Stimme. Mit Jeeps und Panzerspähwagen kamen sie langsam näher. Klein wie Stecknadelköpfe sahen sie Soldaten aus, die in ihrer Tarnkleidung auf der Ladefläche hockten.
Zähe Sekunden verstrichen, während wir unseren Blick nicht von ihnen wenden konnten.
„Lass uns verschwinden!“ Alfred hatte seine Sprache wiedergefunden, über meine Lippen jedoch kam kein Wort. Hastig stolperte ich ein paar Schritte rückwärts, während Alfred schon den Berg wieder hinab eilte.
„Halt! Die Körbe!“
Ich lief zurück, zerrte den knarrenden Handwagen hinter mir her. Wir konnten sie doch nicht einfach stehen lassen, Mutter wäre zornig, denn es käme dem Verlust eines kleinen Vermögens gleich! Wir hasteten die Straße hinunter, der Karren rollte jetzt fast von selbst.
In meinem Kopf hämmerte nur ein Gedanke: Die Amerikaner! Die amerikanische Armee kam die Landstraße entlang! Die ersten Panzerspähwagen bogen bestimmt schon auf unsere Straße ein, sie kamen dicht hinter uns, es würde sicherlich nicht lange dauern und sie holten uns ein! Ob sie schießen würden? War der Krieg vorbei?
Wir liefen noch schneller. Der Handwagen hüpfte durch Schlaglöcher, ächzte und quietschte. Die Körbe drohten zu fallen. Mir stand der Schweiß auf der Stirn.
Wie dunkle Geschosse erhob sich dicht vor mir eine Schar Sperlinge und flatterte von einem Strauch in den anderen. Ein Korb rollte vom Wagen und Alfred jagte ihm nach, behielt ihn jedoch in den Händen.
„Die Amerikaner sind da!“, rief er laut, als wir unten im Dorf auf die ersten Passanten trafen.
Wie es weiterging
Der Erzähler, auf dessen Erinnerungen die Geschichte basiert, war am 13. April 1945 16 Jahre alt und entging dem Kriegsdienst gerade so. Tatsächlich wollte niemand den beiden Teenagern diese Neuigkeit so recht glauben, als sie mit ihrem Handwagen zurück ins Dorf geeilt kamen. Es dauerte ein wenig länger als erwartet, bis die amerikanischen Soldaten tatsächlich mit Panzerspähwagen ins Dorf einfuhren. Sie schossen einige Male mit Maschinengewehren gerade aus in den Wald und auf eine Wiese, vermutlich um den Dorfbewohnern Angst zu machen. Am Gasthof sammelte sich eine Menschenmenge, die beobachtete, wie die Soldaten die Bahnhofsstraße herunterfuhren. Ein Panzerspähwagen lenkte dicht vor den versammelten Menschen um, woraufhin alle Soldaten wieder zurück zur Landstraße fuhren.
Diese kleine Truppe amerikanischer Soldaten waren letztlich nur erste Vorboten, die schnell weiterzogen. Später kamen andere amerikanische und auch russische Soldaten, die sich länger im Dorf aufhielten. Sie beschlagnahmten Schusswaffen, Uhren und Fotoapparate und quartierten sich in den Häusern und Höfen ein. Die zweite Zeitzeugin, damals 18 Jahre alt, harrte beim Einzug der amerikanischen Truppen gemeinsam mit einer Freundin und einer Ziege in der Bodenkammer ihres Wohnhauses aus – um einer möglichen Vergewaltigung zu entgehen. Laut Erzählungen der Dorfbewohner hatten es die Amerikaner jedoch nicht nötig zu vergewaltigen, denn einige Frauen tauschten „freiwillig“ Sex gegen Nahrungsmittel.
Zum Weiterlesen zur amerikanischen Besetzung Thüringens ab 1. April 1945:
Dr. Volker Wahl, Landeszentrale für politische Bildung, 2001