Wem gehört Kultur? – Eindrücke aus Dänemark und Deutschland
Im dänischen Aarhus, das 2017 Europas Kulturhauptstadt sein wird, baut man wie in so vielen Hafenstädten die Waterfront aus: große, mit Designpreisen geschmückte moderne Bauten aus Beton und Glas sollen alte Industriebrachen ersetzen. Vielerorts setzt man da auf Bürohäuser für große Firmen oder bestenfalls neue Opernhäuser. In Dänemark entstand nach dem “schwarzen Diamant”, der königlichen Bibliothek in Kopenhagen, nun schon der zweite Prestige-Bibliotheksbau: Dokk 1 in Aarhus.
Ein Land, das sich mit modernen Bibliotheks-Kathedralen schmückt. – Das zeigt deutlich, welche Bedeutung die Dänen und der dänischen Staat Bibliotheken und der Bildung der Allgemeinheit beimessen. Auf einer intensiven, dreitägigen Tour mit dem Deutschen Bibliotheksverband durch Dänemark und Norddeutschland durfte ich sehen, wie unterschiedlich die Länder mit öffentlicher Bildung und Bibliotheken im digitalen Zeitalter umgehen. Einigkeit herrscht im Vergleich zwischen Deutschland und Dänemark immerhin darin, dass Bibliotheken staatlich finanziert sind und dazu dienen, der breiten Bevölkerung Zugang zu Medien aller Art zu gewährleisten – eine wichtige Bildungs- und Informationsaufgabe. Schaut man auf die Details, scheinen die dänischen Bibliotheken den deutschen mindestens eine Dekade voraus zu sein.
Radikales Neudenken: Offen für alle, pluralistisch, digital
Die Aufgaben von Bibliotheken in Dänemark sind nicht mehr an Bücher gekoppelt. Bei der Inneneinrichtung von Dokk1 in Aarhus legte man Wert darauf, Bücher im Eingangsbereich zu vermeiden. Bibliotheken sind vielmehr Kulturhäuser, demokratische Orte der Bildung für alle, Think Tanks und die Brutstätte neuer, innovativer Ideen. “Hier geht es nicht um Bücher”, sagt Knud Schulz, der Chef von Dokk1, “Bücher sind nur ein Medium, das sich verändert.” Dementsprechend radikal geht man in Dänemark inzwischen mit diesem Medium um. Die dänische Gesellschaft ist eine der am weitesten digitalisierten Europas. Hier kann man die Entwicklungen beobachten, die bei uns mit Jahrzehnten Verzögerung früher oder später vermutlich auch eintreffen werden. Und hier hat man sich entschlossen, Bücher, die zwei Jahre lang nicht mehr ausgeliehen wurden, einfach aus dem lokalen Bestand der Bibliotheken zu tilgen. Sprich: wegzuschmeißen.
[huge_it_slider id=”4″]
“Wir sind kein Museum”, stellt Knud Schulz klar. Statt in jeder einzelnen Bibliothek, gibt es manches Werk nur noch im zentralen, nationalen Lager und kann binnen eines Tages mit dem eigenen Fahrdienst der dänischen Bibliotheken geliefert werden. Die radikale, pragmatische Herangehensweise der Dänen schafft in den Bibliotheken vor Ort Platz für Veranstaltungs- und Meetingräume, für Kinderspiel- und Lernecken, für mehr Computer, Cafeterias, mehr Lebensraum. Dokk1 und die anderen dänischen Bibliotheken, die ich an drei Tagen besichtigt habe, sind ein für alle offener Wohnraum, der meist auch noch nach den offiziellen Öffnungszeiten durch Open Access-Systeme öffentlich genutzt werden kann.
Spiegel gesellschaftlicher Veränderung
Die Entwicklung der Bibliotheken in Dänemark spiegelt die Veränderung in der Gesellschaft wider. Und nicht nur auf diesem Gebiet scheint die Entwicklung in Dänemark schneller zu verlaufen als in Deutschland, wie ich schon in meinem kleinen Alltagsbericht “Ein Jahr in Kopenhagen” an anderen Beispielen deutlich gemacht habe. Nicht bloß in Sachen Digitalisierung scheinen uns die Skandinavier einen Schritt voraus, sondern auch bei der Einbeziehung der Bürger, die die Bibliothek schließlich nutzen sollen. In Aarhus konsultierte man die Öffentlichkeit nicht nur bei der Wahl des Namens für das neue Vorzeigeobjekt, sondern bereits während des Designprozesses – auch für das renommierte Architekturbüro Schmidt / Hammer / Lassen ein Novum.
“Dunkle Materie” im schwarzen Diamant
In der königlichen Bibliothek, auf Grund der Architektur des Neubaus “schwarzer Diamant” genannt, gibt man sich trotz der vier in die Bibliothek integrierten Museen und der jahrhundertealten Bestände ebenfalls modern und offen. Sogar für die Teilnehmer eines 10 Kilometer-Laufs durch die kulturellen Sehenswürdigkeiten der Stadt, öffnete man vor einigen Tagen die Türen und Lesesäle. Jeden Tag erklingt im gesamten Haus um 13 Uhr ein durch einen Algorithmus ausgewähltes Stück des “Hauskomponisten” Wayne Siegel. Natürlich digitalisiert man auch hier die Bestände – man ist sogar daran, die ersten Digitalisierungen zu re-digitalisieren. Jeder weltweit kann Bücher aus dem Bestand auch als PDF bestellen. Sind sie noch nicht digitalisiert, werden sie innerhalb von drei bis fünf Werktagen extra gescannt und in zwei Versionen (schwarz-weiß und durchsuchbar bzw farbig als detailliertes Bild) mit CC-Lizenz zur Verfügung gestellt. Auf diese Art bestimmen die Nutzer, welche Bücher zuerst online verfügbar gemacht werden.
[huge_it_slider id=”5″]
Der Konservator Mogens Bech, der die schwierigen Fälle der Digitalisierung historischer Werke übernimmt, berichtet dann auch von etwas, was Michael Peter Edson, Digital Strategist am Smithsonian, CLIR, und Open Knowledge, als “dunkle Materie” des Internets bezeichnen würde, als ungeahnte Kreativität, als nicht planbarer Mehrwert. An einem Freitag stellte Mogens Bech in Kopenhagen ein eben digitalisiertes Buch ins Netz und ging nach Hause. Am Montag darauf fand er das Buch auf wundersame Weise transkribiert, von einem Mann aus Baltimore. Internetnutzer sind nicht nur Konsumenten, sie werden aktiv, generieren und teilen Inhalte und Wissen und korrigieren sich gegenseitig. Weitere Beispiele für solche wunderbaren Synergien habe ich hier und hier beschrieben. Mehr zur “dunklen Materie” und ein Vortrag von Michael Peter Edson gibt es hier im Blogpost von Peter Soemers im Blog von Tanja Praske.
Die Bibliothek der Zukunft will in Dänemark eine Vermittlerin sein, die der breiten Masse kostenlos und offen für alle infrastrukturelle und kognitive Hilfsmittel zur Verfügung stellt, um Kultur aktiv mitzugestalten. In Deutschland wagen einige Bibliotheken den Blick nach Norden und gehen erste, vorsichtige Schritte in eine gemeinsame Richtung. Aber so lange nicht einmal alle Bundesländer in eigenen Bibliotheksgesetzen eine rechtliche und finanzielle Grundlage für Bibliotheken schaffen, müssen sie hierzulande zunächst primär um ihre Legitimierung im Zeitalter der Digitalisierung kämpfen.