Digitalisierung völlig normal – Mit dem Bibliotheksverband auf Pressereise im Baltikum
Anfang September hatte ich das Vergnügen mit dem Deutschen Bibliotheksverband auf Pressereise ins Baltikum zu fahren. An drei Tagen ging es durch große und auch kleine Bibliotheken in Riga, Klaipėda, Plunge und Vilnius. Grund der Reise war es, dem Stand der Digitalisierung in lettischen und litauischen Bibliotheken nachzuspüren. Uns wurden viele interessante Projekte vorgestellt. Ich hab vor allem eine Erkenntnis mitgenommen: Digitalisierung ist im Baltikum eine Selbstverständlichkeit.
Das lettische Kulturgut ist über ganz Europa verstreut – die Digitalisierung könnte es wieder vereinen
Ein erster, sehr spannender Stop war die lettische Nationalbibliothek in Riga, untergebracht in einem 2014 eröffneten Prestigebau von Architekt Gunnar Birkerts, ähnlich wie die 2017 in Aarhus eröffnete Bibliothek Dokk1 und der “schwarze Diamant” der königlichen Bibliothek in Kopenhagen direkt am Wasser gebaut. Drinnen angekommen, lernte ich schnell, dass traditionelle Volkslieder und Tänze einen wichtigen Teil der lettischen Kultur ausmachen – und teilweise auch zur stummen Protestkultur gehörten. Dass Kulturerbe auch digital verfügbar sein sollte, scheint in Lettland Konsens. Natürlich sind auch die Volkslieder inzwischen digitalisiert.
In Lettland fängt man nicht gerade erst an, über Digitalisierung nachzudenken. Seit zehn Jahren betreibt die Nationalbibliothek zum Beispiel die Crowdsourcing-Plattform Zudusī Latvija, auf der mit Hilfe von Bürgern historische Fotografien zugeordnet und mit Metadaten versehen werden. Man kann Bilder hochladen, kommentieren und mit einer geografischen Position verknüpfen. Das Projekt wurde eher am Rande erwähnt, man denkt hier inzwischen über andere Dinge nach. Zum Beispiel: Wie kann man in Lokalbibliotheken Livestreams von Opernpremieren in guter Qualität anbieten? Wie können all die Werke des 20. Jahrhunderts, die noch urheberrechtlich geschützt sind, aber nicht mehr kommerziell genutzt werden, öffentlich zugänglich gemacht werden? Wie sollte der gemeinsame Chatbot für öffentliche Bibliotheken aussehen? Funktioniert die eigens programmierte Übersetzungssoftware hugo.lv wie sie soll?
Gemeinfreies Kulturerbe ist politisch gewünscht
In der Nationalbibliothek trafen wir unter anderem den stellvertretenden Staatssekretär für Kultur, Uldis Zariņš, der zuvor Leiter der Entwicklungsabteilung der lettischen Nationalbibliothek war und zufällig auch Vorstandsmitglied bei Europeana ist. Die Digitalisierung habe sich in den letzten 20 Jahren gewandelt: Vom ursprünglichen Fokus auf die Möglichkeiten zur Bewahrung von Kulturgut, liege der Schwerpunkt jetzt zunehmend auf freiem Zugang und kreativen, neuen Nutzungsweisen des Kulturerbes. Uldis Zariņš deutete an, dass staatliche Fördergelder für Digitalisierungsprojekte im Kulturbereich in Lettland zukünftig an die Bedingung geknüpft sein könnten, dass Kulturerbe für alle frei zugänglich und nutzbar ist – sprich: Public Domain. (Man stelle sich die gesellschaftliche Debatte bei gleichem politischen Kurs in Deutschland vor!)
Weitere Stops in Riga waren die Universitätsbibliothek (in deren Microsoft Innovation Centre uns auch Krišjānis Barons, der “Vater” der lettischen Volkslieder in Form einer Büste wieder begegnete) und das Zentrum für Kulturinformationssysteme, eine Behörde der lettischen Regierung, die sich schon seit 20 Jahren in Zusammenarbeit mit Kulturinstitutionen mit der Digitalisierung des Kulturerbes beschäftigt. Oft mit Hilfe von EU-Fördergeldern gibt die Behörde den Kulturinstitutionen Handreichungen, Infrastruktur und betreut verschiedene Portale. Es gibt eine Kulturkarte Lettlands, einen gemeinsamen Bibliothekskatalog und ein Bibliotheksportal, seit zwölf Jahren einen zentralen Museumskatalog, in den alle Neueingänge eingespeist werden müssen, ein Archivportal und ein Filmportal, auf dem lettische Produktionen auf Staatskosten gestreamt werden können. Der Staat zahlt übrigens auch für die Bereitstellung des Internets in allen öffentlichen Bibliotheken. Erwähnenswert ist, dass gerade die Bibliotheken in Lettland neben EU-Geldern auch sehr große Fördersummen von der Bill und Melinda Gates Foundation sowie von Microsoft bekommen haben.
Warum so digital?
Das lettische Kulturerbe liegt in Folge der wechselhaften lettischen Geschichte in Archiven auf der ganzen Welt. Die Digitalisierung biete die Chance, es dennoch zusammenzuführen und für alle zugänglich zu machen, betont Uldis Zariņš.
“As a small country, we can nearly digitize everything”, sagt Arturs Zogla von der lettischen Nationalbibliothek.
“Because Latvia is small, it’s easy for us to centralize everything”, sagt Janis Ziedens vom Zentrum für Kulturinformationssysteme.
Auch er ist dafür, dass möglichst alle Digitalisate gemeinfrei zugänglich sind. Meine Nachfrage, woher diese Selbstverständlichkeit kommt, Gelder gerade in digitale Infrastrukturprojekte zu investieren, versteht er nicht. Dass das eine gute Investition ist, scheint in Lettland seit 20 Jahren keiner in Frage gestellt zu haben.
Ein ähnliches Bild begegnet uns am nächsten und übernächsten Tag der Pressereise im Nachbarland Litauen. In der kleinen kommunalen Bibliothek in Plunge gibt es nicht nur eine QR-Code-basierte virtuelle Wanderung durch den Schlosspark (Plunge Smart Park), die Bibliothek lässt auch gerade 3D-Hologramme ihrer größten Schätze herstellen, um sie Schülern in verschiedenen Orten im Umkreis näher zu bringen. Außerdem planen die kreativen und freundlichen Bibliothekarinnen eine VR-Tour, die die ehemalige Orangerie des Gebäudes wieder auferstehen lassen soll. Die Mitarbeiterinnen der kleinen Bibliothek organisieren mit Herzblut Kinderprogramme, Workshops und Ausstellungen und knüpfen Netzwerke zu umliegenden Kultur- und Bildungsinstitutionen.
“Was ist heute eine Bibliothekarin? Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, ob es der richtige Weg ist, alles mögliche zu machen.”
Auch in der Leva Simonaitytė Bibliothek in Klaipėda hat man neben Büchern und 500 Veranstaltungen im Jahr eine regionale Kulturapp in vier Sprachen herstellen lassen und eine eigene Spiele-App für Kinder. Es wird am Rande des Rundgangs erwähnt: “Das ist ein normales Projekt, das das Lustige mit dem Nützlichen verbindet.”
Ein besonders faszinierendes Projekt testet seit drei Jahren eine Stadtteilbibliothek in einem sozialen Brennpunkt Vilnius. Sie entwickelte als erste Bibliothek der Welt ein virtuelle Bibliotherapie (Psychotherapie) für Schüler. Als selbst gestaltete Avatare in einer digitalen Umgebung treffen die Schüler freier aufeinander und öffnen sich leichter gegenüber der ebenfalls digital anwesenden Psychologin. Eines der Ergebnisse ist, dass die Bibliothek für die Kinder ein sicherer Zufluchtsort, ein Haltepunkt im Alltag geworden ist. Diesen Herbst soll die virtuelle Umgebung zur Virtual Reality werden und die Avatare sollen eine realistischere Körpersprache erhalten.
Litauen hat europaweit das am besten ausgebaute Internet. 2005 gab es in Litauen das erste Konzept und 2009 eine Strategie zur Digitalisierung des nationalen Kulturerbes. Bis 2020 soll auf der Plattform epaveldas.lt das digitale Kulturerbe aus litauischen Museen, Archiven und Bibliotheken gesammelt zugänglich sein – gemeinfrei und auch in der Europeana verfügbar.
… Und in Deutschland?
Zeitgleich mit unserer Baltikum-Reise erschien die neue Bibliotheksstudie des Rats für Kulturelle Bildung. Sie empfiehlt: “Insgesamt sollten in Kultureinrichtungen – von den Bibliotheken bis zu den Theatern, Museen und Konzerthäusern – digitale Angebote kultureller Bildung als zentraler Bestandteil ihrer jeweiligen Kernaufgabe verankert und gesichert werden.” – Etwas, was man im Baltikum offenbar schon lange verinnerlicht hat.